1 Öffnung der Wirtschaftsinformatik als Chance und Trend

„WI für Grand Challenges – Grand Challenges für WI“ – so das Leitthema der Internationalen Tagung Wirtschaftsinformatik in 2022. „Digital Responsibility: Social, Ethical, Ecological Implications of IS“ lautet es in 2023. Sich den großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit stellen zu wollen und Verantwortung zu übernehmen ist für viele Disziplinen, so auch für die Wirtschaftsinformatik, reizvoll. Umso weniger wundert es, dass Themen mit potenziell starkem gesellschaftlichen Impact vermehrt auftauchen auf Tagungen, in Schwerpunktheften von Zeitschriften, in Förderprogrammen etc. In Widmungen von Wirtschaftsinformatik-Professuren ist seit ein paar Jahren gehäuft der früher unübliche Zusatz „und Gesellschaft“ zu lesen. Der Trend unserer Disziplin scheint klar in dieser Richtung zu gehen und vermutlich gibt es auch ein deutliches Bedürfnis ihn zu verstärken.

Die Sehnsucht von Forscherinnen und Forschern, die bislang in den Augen anderer „lediglich“ einen Beitrag zur Performanceverbesserung von gewinnorientierten Unternehmen geleistet haben, auch etwas zu Gesundheit, Wohlbefinden, Klimaschutz, Nachhaltigkeit oder Gerechtigkeit beitragen zu können, ist nachvollziehbar. Auch der Wunsch ein Fach zu modernisieren, es an Zeitgeist anzupassen und es insbesondere auch für jüngere Menschen attraktiver zu gestalten, sind positive Entwicklungen und Chancen, die dieser Trend mit sich bringt.

Diese Beobachtungen haben zu der Idee eines Panels auf der Internationalen Tagung Wirtschaftsinformatik 2022 geführt, denn Diskussionen zu diesem Thema wurden bisher eher indirekt geführt und Chancen dieses Trends sind auch wesentlich leichter zu artikulieren, als das Scheitern von Problemlösungen an disziplinäre Grenzen zu propagieren – zumal das Überwinden disziplinärer Grenzen unser Fach prägt und erfolgreich gemacht hat. Wenig verwunderlich ist es daher, dass für das Panel leichter Panelistinnen und Panelisten zu finden waren, die eine Öffnung einfordern, propagieren oder ihr zumindest positiv gegenüberstehen. Etwas schwieriger war es, Meinungsbilder zu dazu konträren Positionen und potenziellen Risiken zu finden. Im Folgenden haben wir solche Meinungsbilder zusammengetragen: So weist Matthias Schumann in seinem Beitrag vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung des Faches auf das Risiko einer thematischen Beliebigkeit der Disziplin hin, die dann infolgedessen nicht ihre Relevanz stärken, sondern schwächen würde. Auch Thomas Hess argumentiert in Richtung einer Schwächung der Disziplin, allerdings sieht er das Risiko in der Komplexitätssteigerung des fachlichen Kerns der Disziplin und einer dadurch bedingten Aufsplitterung des Faches in Teildisziplinen. Hubert Österle propagiert klar die Notwendigkeit einer Life-Engineering-Disziplin, die das Leben zum Wohle des Menschen gestaltet, fragt sich aber, welche Disziplin dafür geeignet ist. Auch wenn er der Wirtschaftsinformatik hierfür eine gewisse Eignung ausspricht, sieht er die größeren Chancen in einer neuen, eigenständigen Disziplin, die sich nicht erst aus einem Korsett von etablierten Denk- und Bewertungsmustern befreien muss.

Allen drei Beiträgen ist aber auch ein Argument gemein, nämlich die im Fach angelegte Fähigkeit von Wirtschaftsinformatikerinnen und Wirtschaftsinformatikern fachliche Grenzen überwinden, Perspektiven integrieren und Sichten zusammenführen zu können. Dieses Potenzial in die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen einzubringen wird unstrittig als die einzigartige Chance der Wirtschaftsinformatik gesehen. Es bleibt abzuwarten, ob und wie wir diese Chance ergreifen werden.

2 Themen der Gesellschaftsinformatik als Erweiterung der Wirtschaftsinformatik?

In der jüngeren Zeit finden sich in der Wirtschaftsinformatik Beiträge, die sich z. B. mit der Ethik von Softwarelösungen oder dem ethischen Anspruch von Entwicklern für solche Systeme auseinandersetzen (vgl. Bednar et al. 2019), andere beschäftigen sich mit dem Einfluss von Sozialen Netzen auf die gesellschaftliche Meinungsbildung oder politische Beeinflussung sowie Wirkung für jeden Einzelnen (Chan et al. 2022). Erkennbar ist, dass die generelle Digitalisierung und der Einsatz von Informationssystemen in vielen, auch privaten, Lebensbereichen zu veränderten individuellen Verhaltensweisen und gesellschaftlichen Normen beitragen. Soll die Analyse dieser Phänomene durch die Wirtschaftsinformatik aufgegriffen werden? Dieses würde ja eine Erweiterung der traditionellen Fachinhalte bedeuten.

Die Wirtschaftsinformatik ist eine vergleichsweise junge Disziplin. Die Anfänge lassen sich etwa auf die Mitte der 1960er-Jahre mit der Habilitationsschrift von Mertens (1966) und dem von ihm besetzten ersten Lehrstuhl zur betrieblichen Datenverarbeitung im deutschsprachigen Raum in Linz zurückführen. Traditionell beschäftigt sich die Wirtschaftsinformatik mit der Erklärung und Gestaltung von Anwendungssystemen, ursprünglich für den betrieblichen und zwischenbetrieblichen Bereich. Durch B2C-Prozesse sind aber auch Personen in ihrem privaten Lebensumfeld betroffen. Daneben werden die Fragen des Informationsmanagements aufgegriffen und digitale Veränderungsprozesse und Geschäftsmodelle analysiert.

Dieses Feld wird mit einem breiten Spektrum an Forschungsmethoden bearbeitet (Wilde und Hess 2007). Überwogen bis etwa zum Jahrtausendwechsel gestaltungsorientierte Forschungsansätze, so hat inzwischen das statistisch abgesicherte erklärungsorientierte Paradigma deutlich an Übergewicht gewonnen, auch getrieben durch die Internationalisierung des Faches mit der Orientierung an den Publikationsorganen der Information Systems. Im „Memorandum zur gestaltungsorientierten Wirtschaftsinformatik“ (Österle et al. 2010, 2011) haben Wirtschaftsinformatiker ihre Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass die Gestaltungsorientierung nach wie vor eine wesentliche Forschungsrichtung der Wirtschaftsinformatik darstellt. Die Kombination beider Richtungen, bei der Ergebnisse der Erklärungsorientierung wieder zum Verbessern, Erweitern oder der vollständigen Neugestaltung von Anwendungssystemen führen, ist dabei sicherlich ein ideales Vorgehen. Gerade die Rückkopplung mit Empfehlungen in Bezug auf die Ausgestaltung von Anwendungssystemen oder des Informationsmanagements könnte sicherlich weiter intensiviert werden. Häufig verharrt die Forschung im Stadium der empirisch fundierten Erklärung. Als drittes sind formal-analytische Forschungsmethoden zu nennen, die insbes. aufgrund der verfügbaren Rechnerleistungen für betriebliche Aufgabenstellungen, z. B. in der Produktionsplanung und -steuerung oder der Unternehmenssimulation, wieder an Bedeutung gewinnen. Diese drei unterschiedlichen Forschungsparadigmen und der Umgang damit innerhalb der wissenschaftlichen Community zeigen, dass es notwendig ist, ein gemeinsames gefestigtes Verständnis zu den verwendeten Forschungsmethoden zu haben.

Soll nun die inhaltliche Erweiterung beurteilt werden, so ist es ratsam, sich mit konstituierenden Faktoren eines wissenschaftlichen Faches auseinanderzusetzen. Eine Wissenschaftsdisziplin wird als ein spezifisches soziales System von Kommunikation und Interaktion im Bereich der Wissensgenerierung und des Wissenstransfers mit Bezug auf einen bestimmten Gegenstandsbereich verstanden (Klein und Hirschheim 2008). Sie sollte neben anderem über theoretische Konzepte, Methoden und Verfahren zur Definition von Forschungsfragen und Problembereichen sowie als Basis der Wissensgenerierung in Bezug auf den Gegenstandsbereich verfügen.

Traditionell beschäftigt sich die Wirtschaftsinformatik mit Informationssystemen und dem Management von Informationen für und von Unternehmen sowie zwischen- und überbetrieblichen Lösungen. Gleiches gilt für die öffentliche Verwaltung. Hier gilt es eine bestmögliche Erklärung für die Gestaltung und die Nutzung dieser Systeme zu finden. Beschäftigt man sich mit den Wirkungen derartiger Lösungen, so wird schon sehr lange zwischen der individuellen, der betrieblichen, der volkswirtschaftlichen und der globalen/gesellschaftlichen Ebene für die Analyse unterschieden (Anselstetter 1984, S. 4). Ausgangspunkt sind dabei immer Lösungen, die einen betrieblichen Bezug haben. Erweitert man nun diese Fragestellungen, so geht es etwa um den Einfluss sozialer Netzwerke auf die Gesellschaft, z. B. auf die Mobilisierung der Bevölkerung während des Arabischen Frühlings 2011 (Kneuer und Demmelhuber 2012), die Manipulation von Wählern bei der US-Wahl 2016, das EU-Referendum 2016, die Proteste in Hongkong 2019/2020 sowie den Einfluss des Internets auf die Meinungsbildung zum Ukraine-Krieg. Es stehen sozial- und politikwissenschaftliche Fragestellungen im Fokus, betriebliche Bezüge sind nicht oder kaum mehr vorhanden. Es gibt eine Reihe sehr bekannter Wissenschaftler, die an der Nahtstelle zwischen Information Systems und Sozial- oder Politikwissenschaften arbeiten, sich aber selten auf die Details betrieblicher Lösungen einlassen. In jüngerer Zeit vorliegende Arbeiten zur Nutzung und Akzeptanz der Corona-App untersuchen, welche Faktoren es sind, die eine breite Nutzung derartiger Systeme befördern und/oder behindern sowie welche technischen Eigenschaften besonders gut geeignet sind, angemessen Warnungen zu sammeln und zu verteilen. Auch hier geht es streng genommen nicht um Fragestellungen mit Unternehmensbezug, wohl aber der öffentlichen Verwaltung (Gesundheitsämter, Eindämmung von Pandemien). Die dort gefundenen Ergebnisse mögen teilweise auch helfen, die Akzeptanz von Apps, die für B2C-Lösungen eingesetzt werden, zu beurteilen oder daraus zu lernen, wie auch betrieblich relevante Systeme gestaltet werden müssen. Wichtig erscheint hier die betriebliche Rückkopplung, um den betrieblichen Fokus nicht zu verlieren. Ansonsten ergibt sich bei den Untersuchungsobjekten eine Beliebigkeit, an deren Ende der betriebliche Bereich aus dem Fokus verschwindet und in benachbarte Wissenschaftsdisziplinen abgedriftet wird.

Ein weiteres Themengebiet, das grundlegende gesellschaftliche Fragestellungen behandelt, ist das der Ethik von Informationssystemen. Insbesondere in Verbindung mit modernen KI-Ansätzen wird diese Themenstellung zunehmend diskutiert. Grundsätzliche Diskussionen werden dabei selten geführt, dazu müsste wohl auch auf den reichhaltigen philosophischen Diskussionsstrang zurückgegriffen werden. Speziell wird z. B. für Robo-Advisor-Lösungen, die Unternehmen anbieten, die Frage gestellt, ob ein antrainierter Bias in der Kundenberatung vertretbar ist (Cheng et al. 2019). Einen solchen Bias findet man ja auch bei der persönlichen Anlageberatung aufgrund von Prämierungen der Kreditinstitutsmitarbeiter. Der Umgang damit ist in der Literatur diskutiert und kann in den Grundzügen auf die Robo-Lösungen übertragen werden. Zu ethischen Fragen hat sich das Marketing seit langem geäußert (Hansen 1995). Ethikdiskussionen werden auch in der deutschen Betriebswirtschaftslehre schon lange geführt. Exemplarisch sei auf die Beiträge von Thielemann und Weibler (2007) sowie Scherer und Patzer (2008) verwiesen. Allerdings bauen die WI-bezogenen Publikationen nur selten auf diesen Grundlagen aus den Wirtschaftswissenschaften auf. Diskriminierung durch KI-Lösungen, z. B. in der Personalbeurteilung und -auswahl als Beispiel eines speziellen Ethik-Themas, ist sowohl ein betriebliches als auch ein gesellschaftliches Thema. Dieses greifen ebenso Juristen mit dem Schwerpunkt IT-Recht auf (vgl. Hoeren und Pinelli 2022). Damit wird deutlich, dass viele dieser Fragestellungen tiefgreifend im Verbund der verschiedenen Disziplinen behandelt werden müssen.

Bei all den Ausführungen ist zu berücksichtigen, dass man sich in der Wirtschaftsinformatik für eine erfolgreiche Karriereplanung an den Maßstäben orientieren muss, welche die Fakultäten und Berufungskommissionen für die Besetzung von Professuren festlegen. Dieses sind in den rankinggetriebenen wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten A‑Publikationen in den einschlägigen IS-Journals. Dabei ist auch sichtbar, dass bei einer starken empirischen B2C-Orientierung andere Fachdisziplinen, wie z. B. das Marketing an der Kundenschnittstelle (früher personell, jetzt digital), in IS-Outlets drängen, zumal Datenerhebung durch Zukauf einfach möglich ist. Es überwiegen empirische Arbeiten mit Erklärungsbeiträgen, die nicht immer Konsequenzen für die Gestaltung der sozio-technischen Systeme rückkoppeln. Da auch sozialpsychologische Themen in IS-Journalen breite Berücksichtigung finden, bieten sich auch solche mit gesellschaftswissenschaftlichen Bezügen als weiteres Feld für die Forschenden an. Dieses befördert den Umgang mit gesellschaftsbezogenen Themenstellungen. Das Fach Information Systems ohne expliziten „Business“-Fokus besitzt hier keine so klare Abgrenzung des Betrachtungsgegenstandes.

Was folgt daraus für die Wirtschaftsinformatik? Der Gegenstandsbereich der Disziplin sollte klar umrissen sein. Dieses sind Anwendungssysteme und Fragen des Informationsmanagements jeweils mit betrieblichem Bezug. Dieser betriebliche Bezug sollte nach wie vor im Mittelpunkt stehen. Entfällt dieser, ergibt sich in den Themenstellungen eine gewisse Beliebigkeit. Viele Digitalisierungsaktivitäten haben direkte oder indirekte Wirkungen auf Betriebe und ebenso gesellschaftliche Wirkungen. Hingewiesen sei auf das breite Feld an E‑Aktivitäten, bei denen jeweils betriebliche Lösungen im Mittelpunkt stehen und die viel zukünftiges Forschungspotential bieten. Umfassende, fundierte gesellschaftsbezogene Forschungsergebnisse werden dabei nur dann möglich sein, wenn unterschiedliche Disziplinen sich mit ihrer spezifischen Expertise jeweils in die Fragestellungen einbringen. Traditionell ist die Wirtschaftsinformatik ein interdisziplinäres Fach. Den Forschern bietet sich somit die Möglichkeit, diese verschiedenen Sichten zusammenzubringen, um profunde Lösungen vorzuschlagen. Den Wirtschaftsinformatikern wird es dabei auch zufallen, diese Ergebnisse in die weitere Gestaltung der betrieblichen Systeme einzubringen. Dieses Aufgabenspektrum wird ihre Relevanz stärken und sie klar von anderen Disziplinen differenzieren.

3 Von der Wirtschaftsinformatik zur Gesellschaftsinformatik? Zwei Alternativen für den langfristigen Erfolg der Disziplin

Die Wirtschaftsinformatik hat sich in den letzten 50 Jahren als wissenschaftliche Disziplin im deutschsprachigen Raum etabliert. Heute sind in der Kommission Wirtschaftsinformatik (WKWI) im Verband der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer für Betriebswirtschaft (VHB) mehr als 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler organisiert, vom Postdoc bis zum „Full Professor“. Viele Wissenschaftler der Wirtschaftsinformatik sind institutionell in die Wirtschaftswissenschaften integriert, typischerweise in die Betriebswirtschaftslehre, einige auch in die Informatik. Thematisch hat sich die Wirtschaftsinformatik schrittweise erweitert. In ihren Anfängen lag der Schwerpunkt auf der Ausgestaltung von Unternehmenssoftware sowie deren systematischer Entwicklung und Wartung. In den 80er-Jahren kam das Informationsmanagement hinzu. Im Mittelpunkt stand dabei der adäquate Umgang mit Informationen im Unternehmen, insbesondere vor dem Hintergrund neuer technischer Möglichkeiten und gewachsener Systemlandschaften. In den letzten Jahren sind die digitale Transformation etablierter Unternehmen und der Aufbau digitaler Startups als weitere Themenfelder hinzugekommen. Hierfür beginnt sich der Begriff Digitale Wirtschaft (Digital Business) zu etablieren.

Die Diskussion über die weitere Relevanz der gestaltungsorientierten Forschung war in der Wirtschaftsinformatik vor etwa zehn bis fünfzehn Jahren entscheidend. Nach einer breiten und langen Diskussion (Österle et al. 2010, 2011) wurde die Koexistenz der drei Kategorien von Forschungsmethoden (gestaltungsorientiert, empirisch und formal-analytisch) breit akzeptiert (Schreiner et al. 2015).

Derzeit stellt sich eine ähnlich wichtige Frage für die Entwicklung der Disziplin. Diese aktuelle Diskussion betrifft jedoch nicht die Forschungsmethoden, nun geht es um den inhaltlichen Fokus des Fachs. Traditionell lag dieser – wenig überraschend – auf der Wirtschaft, insbesondere (aber nicht ausschließlich) auf Unternehmen. Auch heute noch sind Unternehmen ein wichtiges Anwendungsfeld für digitale Technologien. Digitale Technologien spielen aber mittlerweile auch in allen Bereichen der Gesellschaft eine wesentliche Rolle. Daher stellt sich die Frage, ob sich die Wirtschaftsinformatik auch mit der Gesellschaft im Allgemeinen befassen oder sich weiterhin auf die Wirtschaft konzentrieren sollte.

Um diese Frage zu beantworten, sollte man einen Blick in die Literatur werfen, die sich mit der Genese wissenschaftlicher Disziplinen beschäftigt. Einerseits ist es wichtig zu verstehen, was eine Disziplin ausmacht. Die Literatur beantwortet diese Frage eindeutig (z. B. Barrell et al. 1987). Als wesentliche Bausteine einer Disziplin werden dort eine Fokussierung auf eine bestimmte Perspektive bei der Wahrnehmung der Welt und ein definierter Satz von Methoden zur Generierung von Wissen über diesen Ausschnitt genannt. Zudem wird postuliert, dass eine Disziplin nicht autonom existiert, sondern in das Wissenschaftssystem eingebettet ist. Das Hauptziel besteht darin, die beste Segmentierung der Welt durch eine geeignete Definition von Disziplinen zu finden. Darüber hinaus müssen, wie die Wissenschaftssoziologie herausgearbeitet hat (z. B. Bourdieu 1991), die individuellen Interessen der Wissenschaftler berücksichtigt werden, insbesondere im Hinblick auf ihre Karriere. Zudem sind auch wissenschaftlichen Institutionen und ihre Struktur wichtig für die Entwicklung einer Disziplin.

Vor diesem Hintergrund lässt es sich diskutieren, ob es sinnvoll ist, die Wirtschaftsinformatik über die Domäne der Wirtschaft hinaus zur Gesellschaft insgesamt zu öffnen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es – anders als noch vor einigen Jahren, aber nicht überraschend – inzwischen namhafte Wissenschaftler gibt, die sich „äquidistant“ zwischen der Informatik und einem Teilbereich der Sozialwissenschaften jenseits der Wirtschaftswissenschaften etabliert haben. Exemplarisch seien die Politikinformatik und die sogenannten Computational Social Sciences genannt. Und natürlich gilt nach wie vor, dass es unerlässlich ist, die eigene Domäne in der Tiefe zu verstehen – genau das zeichnet die Wirtschaftsinformatik aus und grenzt sie von der angewandten Informatik ab. In Summe legt dies Nahe, dass die Disziplin Wirtschaftsinformatik (anders als vielleicht die Schwesterdisziplin Information Systems) bewusst nicht ihren Umfang verändern und nicht der „Versuchung“ der Verbreiterung durch das Früher-Sein-Wollen erliegen sollte. Letzteres gilt auch aus Eigeninteresse der Disziplin. Die Wirtschaftsinformatik hat einen bekannten Ankerpunkt: Anwendungssysteme in Unternehmen. Die Wirtschaftsinformatik beschäftigt sich mit der Konfiguration aller Arten von Anwendungssystemen, die für Unternehmen relevant sind. Außerdem befasst sich die Wirtschaftsinformatik mit der Gestaltung und Nutzung dieser Systeme, ihren Potenzialen für Unternehmen, ihrem Management und den eingesetzten Technologien. Der Ankerpunkt sind jedoch immer Anwendungssysteme. Auch im Hinblick auf die drei sehr unterschiedlichen Klassen von Forschungsmethoden ist der Kern der Wirtschaftsinformatik recht komplex. Durch eine Erweiterung der Domäne würde dieser Kern noch komplexer werden; schlussendlich würde dann wahrscheinlich der Kern, der die Disziplin ausmacht, verschwinden. Die Folge wäre eine Aufsplitterung des Faches in Teildisziplinen. Dies wiederum würde das Fach erheblich schwächen.

Die Wirtschaftsinformatik sollte daher in der Domäne Wirtschaft verbleiben. Gleichwohl gibt es aber zwei Möglichkeiten, wie die Disziplin eine wertvolle Entwicklung erfahren kann. Erstens kann die Wirtschaftsinformatik offener sein für die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen in gemeinsamen Projekten: Im Bereich des Datenschutzes kann die Wirtschaftsinformatik beispielsweise bei der Gestaltung von Provider-Geschäftsmodellen oder bei der Identifizierung von Anreizen für Kunden, Daten zur Verfügung zu stellen, mitwirken. Dabei muss die Disziplin die rechtlichen Rahmenbedingungen oder die Neigungen im Verhalten der Nutzer verstehen – ohne originäre Aussagen über die Gestaltung rechtlicher Rahmenbedingungen oder psychologischer Mechanismen zu treffen. Dem gleichen Ansatz folgend ist es Aufgabe der Wirtschaftsinformatik, sich mit der Konfiguration von Paywall-Systemen im Kontext der digitalen Transformation der Medienbranche zu beschäftigen. Dabei sollte insbesondere die Rolle der Medienunternehmen im Prozess der öffentlichen Kommunikation betrachtet werden, ohne jedoch diese Themen direkt zu behandeln.

Die Wirtschaftsinformatik könnte auch auf eine zweite Art und Weise einen Beitrag leisten, nämlich durch die Integration verschiedener Perspektiven. Durch die Positionierung der Wirtschaftsinformatik als interdisziplinäres Fach zwischen Wirtschaftswissenschaften und Informatik verfügen Wissenschaftler aus der Wirtschaftsinformatik bereits über die Kompetenz zur Integration von Perspektiven – bewusst ohne zu versuchen, alle Bereiche selbst zu beherrschen.

4 Social Informatics – Life Informatics – Life Engineering

Vor 50 Jahren wurde aus der „Betriebsinformatik“ die „Wirtschaftsinformatik“. Damals wurde die Sichtweise „Betrieb“ als zu eng angesehen. Sollte die Wirtschaftsinformatik nun zur Gesellschaftsinformatik werden? Oder, aus der Sicht des Menschen, Lebensinformatik? Oder ein gestaltungsorientiertes Life Engineering?

Quantensprung in der soziotechnischen Evolution

Die technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen erfordern dringend eine Neupositionierung. Hunderttausende von digitalen Diensten verändern alle Bereiche unseres Lebens, unseres Zusammenlebens und unseres Wirtschaftens. Sie sammeln dabei so viele Daten, dass viele Autoren bereits den Begriff „Human Digital Twin“ verwenden. Algorithmen der maschinellen Intelligenz und die Leistung spezialisierter Prozessoren machen es möglich, auf der Grundlage dieser Daten das menschliche Verhalten zu analysieren, vorherzusagen und zu beeinflussen. Dieses Wissen bildet die Grundlage, um Menschen immer neue und bessere Dienste anzubieten.

Risiken und Chancen

Wenn all diese Digitalisierung der Lebensqualität der Menschen dient, sind wir auf dem Weg in ein digitales Paradies. In der Tat sind mit den meisten Diensten Chancen UND Risiken für den Einzelnen und die Gesellschaft verbunden. Die Umsatz- und Gewinnorientierung der Unternehmen ist eine Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit in einer unaufhaltsamen technischen und gesellschaftlichen Evolution. Sie verstärkt aber auch das Konsumdenken und bringt uns damit in das Hamsterrad von Gelderwerb, Selbstdarstellung und Unterhaltung (Angst, etwas zu verpassen). Sie sorgt für einen unersättlichen Ressourcenverbrauch, treibt die Überwachung des Einzelnen weiter, schafft mächtige Instrumente der Einflussnahme oder verstärkt extreme politische Positionen. Sie erhöht die Komplexität des Lebens, was bei vielen Menschen ein Gefühl der Überforderung und der Benachteiligung hervorruft.

Diesen Risiken steht ein noch nie dagewesener Wohlstand gegenüber. Auf welche der Errungenschaften wollen wir freiwillig verzichten: Handy, Navigation, E‑Mail, Telearbeit, Online-Spiele oder Suchmaschinen? Oder auf zukünftige Innovationen, die auf maschineller Intelligenz beruhen: Sieg über den Krebs, unfallfreie Mobilität, stabile Stromnetze usw.?

Wie die biologische Evolution folgt auch die soziotechnische Evolution dem Prinzip des Überlebens des Stärkeren (Survival of the Fittest). Ihr Kriterium ist nicht die körperliche Gesundheit, sondern vor allem das Kapital und die damit einhergehende Macht. Wissen, Attraktivität und soziale Gemeinschaften sind Mittel zu diesem Zweck. Von den Millionen von Apps und konkurrierenden Plattformen überleben nur die kommerziell erfolgreichsten.

Handlungsdruck

Wissenschaft, Politik, Zivilgesellschaft und Medien beschäftigen sich zunehmend mit Fehlentwicklungen wie Monopolmacht, Filterblasen und Radikalisierung oder mit der Ersetzung des Menschen durch künstliche Intelligenz und entwickeln Regulierungsvorschläge und Visionen für das menschliche Wohlergehen. Beispiele dafür sind die Bemühungen des IEEE um ethisch ausgerichtetes Design (Ethically Aligned Design, (IEEE 2017)), die hochrangige Expertengruppe der EU für künstliche Intelligenz (Europäische Kommission 2022), die private Initiative reState Global (https://restate.global/) oder die Vision von Technologieanbietern wie Huawei’s „Intelligent World 2030“ (Huawei 2021). Die Gesetzgebung in der Europäischen Union und den USA, aber auch in China, setzt vieles davon bereits im Alltag um. Wissen um die Auswirkungen ist jedoch erst im Entstehen. Die Datenschutz-Grundverordnung zielt beispielsweise auf den Schutz der Privatsphäre ab, aber Verbraucher opfern sie nur allzu leicht der Bequemlichkeit. Wenn also die Megaportale (FANGMAN) weiterhin alle Daten sammeln, aber die Dienste kleiner neuer Marktteilnehmer keinen ausreichenden Zugang zu diesen erhalten, könnte dies den hehren Zielen des Gesetzgebers zuwiderlaufen. Verbrauchern die Freigabe zur Nutzung ihrer Daten zu überlassen, ist geradezu unredlich, da selbst hochgebildete Nutzer die Folgen der Preisgabe ihrer Daten nicht abschätzen können. Die Forderung nach Autonomie von Staaten und Individuen ist wohl als politisches Schlagwort zu verstehen, wenn es um mögliche Alternativen zu den dominierenden Chips, Betriebssystemen, Internet-Browsern, Cloud-Diensten, sozialen Netzwerken, Suchmaschinen und anderen Diensten geht.

Modell der Lebensqualität

Laut Economist vom 7. Mai 2022 gibt es 400.000 Gesundheits-Apps mit Zugang zu 8000 physiologischen und verhaltensbezogenen Daten von 1200 digitalen Sensoren. Ein großer Teil dieser Dienste zielt darauf ab, die Lebensqualität zu verbessern, so wie es beispielsweise Microsoft Viva oder Apple Screen Time tun. Die Forschung zur Langlebigkeit will nicht nur das Leben verlängern, sondern auch eine hohe Lebensqualität erreichen. Weder die Psychologie noch die Neurologie noch die Philosophie sagen uns jedoch konkret, was unsere Lebensqualität auf lange Sicht ausmacht. Wir haben also einen schnell wachsenden Werkzeugkasten, aber wenig Ahnung, was wir damit bauen wollen.

Votum für eine Life-Engineering-Disziplin

Die Informationstechnologie löst zusammen mit anderen Technologien wie Medizin, Werkstoffen und Energie einen soziotechnischen Evolutionssprung aus, bei dem die Technik zunehmend in das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft eingreift. Eine Disziplin des Life Engineering (Österle 2020) sollte uns die Konzepte für die Bewältigung dieses Wandels liefern. Dazu muss sie Fragen zu folgenden Bereichen beantworten:

  • Technologische Entwicklung: Welche Technologien werden das Leben in den nächsten Jahren verändern? Generative Künstliche Intelligenz, Metaverse, Sensorik, Mobilität, Meinungsbildung, autonome Waffensysteme usw.?

  • Persönliche digitale Assistenten: Welche Dienste unterstützen welche Bereiche des Lebens? Navigation, Depressionstherapie, private Verwaltung, Kommunikation usw.?

  • Digitales Abbild des Menschen: Welche Daten werden erzeugt und wer hat Zugriff darauf? Finanzen, Gesundheit, Arbeitseffizienz, Freizeitaktivitäten, politische Meinung usw.?

  • Individuelles und gesellschaftliches Verhalten: Welche Verhaltensmuster kennen wir aus den Nachbardisziplinen und aus der Analyse von digitalen Zwillingen? Kaufverhalten, Schulsystem, Meinungsbildung, Wahlverhalten, kriminelle Aktivitäten usw.?

  • Lebensqualität: Welche Faktoren bestimmen die Lebensqualität und wie können sie aus den Datensammlungen abgeleitet werden? Einkommen, Freunde, Bequemlichkeit, Macht, Wissen usw.?

  • Gestaltung des realen Lebens: Wie können wir das, was wir über Lebensqualität und Technologie wissen, auf das tägliche Leben von Einzelpersonen, Unternehmen und der Gesellschaft anwenden? Nutzungsberichte, Verhaltensempfehlungen, Coaching, Nudging, Scoring, Regulierung usw.?

Ethische und humanistische Leitgedanken prägen derzeit die Diskussion. Sie beruhen auf dogmatischen Begriffen wie Autonomie, Gleichheit, Würde, Recht auf Arbeit oder Selbstverwirklichung, ohne den Zusammenhang zwischen diesen Werten und der Lebensqualität zu präzisieren. Wenn wir das Leben zum Wohle der Menschen gestalten wollen, müssen wir diese Wertvorstellungen zu einem belastbaren Modell der Lebensqualität weiterentwickeln. Welche Disziplin ist dafür am besten geeignet: Informatik, Anthropologie, Life Sciences, Psychologie, Soziologie, Wirtschaftsinformatik oder Gesellschaftsinformatik? Die Wirtschaftsinformatik hat gute Voraussetzungen für ein solches Lehr- und Forschungsgebiet, da sie sich schon immer mit soziotechnischen Systemen, also der Integration verschiedener Disziplinen, beschäftigt hat. Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass eine neue, eigenständige Disziplin des Life Engineering Antworten auf die anstehenden Herausforderungen der Digitalisierung geben kann, als dies in einer Wissenschaft mit fest verankerten Denk- und Bewertungsmustern möglich ist.