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Abstract
Die Medizin erlebte im Laufe des 19. Jahrhunderts eine „laboratory revolution“ (Williams/Cunningham). Zu den Protagonisten dieser Entwicklung zählten die selbsternannten „organischen Physiker“, die eine reduktionistisch-mechanistische Sicht auf den Organismus teilten. Ein Hauptakteur dieser Gruppe war der Berliner Physiologe Emil DuBois-Reymond (1818-1896), der mit seinen Versuchen zur Neurophysiologie um 1850 auf große Anerkennung stieß. In seiner Funktion als „ständiger Sekretar“ der Preußischen Akademie der Wissenschaften avancierte der Berliner Physiologe zu einem breit rezipierten Festredner der Kaiserzeit. Ob zum Jahrestag Friedrich des Großen, dem Geburtstag des Kaisers oder zum Ehrentag des Akademiegründers Leibniz’ – DuBois-Reymond ließ kaum eine Gelegenheit aus, mitunter kontroverse Exkurse in die Wissenschaftsgeschichte zu wagen. Bei genauer Sichtung seiner Reden scheint die Intention seiner Rhetorik die Ebene der reinen Ehrerbietung jedoch zu verlassen: Es wird argumentiert, dass DuBois-Reymond in seinen Festreden die Wissenschaftsgeschichte gezielt funktionalisierte, um sein eigenes Forschungsprogramm der organischen Physik zu legitimieren und feindliche Positionen wie den Vitalismus in Misskredit zu bringen. Systematisch entwarf der Berliner Ordinarius wissenschaftshistorische Narrative, in denen die organische Physik als der Kulminationspunkt einer notwendigen, teleologischen Entwicklung erscheinen sollte: die organischen Physiker erreichten den Zenit der experimentellen Naturwissenschaft, so sein Narrativ. Mithilfe kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien wird untersucht, wie die akademische Erinnerungskultur zur historischen Legitimierung eigener Forschungsprogramme im 19. Jahrhundert instrumentalisiert wurde.